Ein Bericht aus der Süddeutschen Zeitung vom 26.07.2018: Goldstaub für die Betriebe

Goldstaub für die Betriebe

 

25. Juli 2018, 18:48 Uhr Ausbildung 
 

Viele Staaten blicken mit Neid auf das deutsche Ausbildungswesen. Doch haben nicht alle Wirtschaftszweige erkannt: Schulabgänger sind wertvoll und flüchtig.

Von Henrike Roßbach
 

Schlechte Zeiten sind das für Meister der sehr alten Schule, die ein grummeliges "Lehrjahre sind keine Herrenjahre" für vollkommen ausreichend halten als philosophischen Überbau zum Thema Ausbildung. Alles spricht gegen sie. Die demografische Entwicklung zum Beispiel. Die Zahl der Schüler sinkt; langsam, aber stetig. Dementsprechend sinkt auch die Zahl der Absolventen. Was aber steigt, inmitten dieses allgemeinen Sinkflugs, ist der Anteil der Abiturienten und Studienanfänger, die mit dem Satz "Mach doch erst mal eine Ausbildung" wenig anfangen können.

Die mittelfristige Aussicht für Betriebe, die zur Nachwuchssicherung auf Auszubildende angewiesen sind, ist also eher mittelprächtig. Kein Wunder, dass das Klagelied zum Ausbildungsjahr heute oft anders klingt als noch vor einigen Jahren. Der gravierende Lehrstellenmangel der späten Neunziger und frühen Nullerjahre wurde - unterm Strich - abgelöst von einem Bewerbermangel. Das alles lässt, den Gesetzen des Marktes folgend, eigentlich nur einen Schluss zu: Schulabgänger sind Goldstaub; wertvoll und flüchtig und deshalb in jeder Hinsicht sorgsam zu behandeln.

Viele Unternehmen tun das auch. Sie bilden hervorragend aus, aus Weitsicht und gesellschaftlicher Verantwortung. Ihnen verdankt Deutschland die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit der Europäischen Union und ein Ausbildungswesen, auf das viele Länder mit Neid blicken. Zahlreiche Ausbildungsberufe wurden modernisiert, man kann heute gleichzeitig fürs Abitur und den Gesellenbrief lernen, und der "Meister" ist die Eintrittskarte zur Hochschule.

Dennoch sind hin und wieder Zweifel angebracht, ob wirklich alle Wirtschaftszweige in der Goldstaubrealität angekommen sind. Etwa beim Blick in die neueste Tabelle zu ausgewählten Ausbildungsvergütungen. 610 Euro im Monat verdient ein Kfz-Azubi in Thüringen im ersten Lehrjahr, 1037 Euro dagegen ein Lehrling in der Baden-Württembergischen Metall- und Elektroindustrie. Es gibt zwar auch höchst beliebte Ausbildungsberufe mit besonders mauen Verdienstaussichten (Friseurin) und eher gut bezahlte mit trotzdem zu wenigen Bewerbern (Bau). Oft aber rangieren Branchen, die ohnehin schon große Nachwuchssorgen haben, zusätzlich noch am unteren Ende der Vergütungstabelle.

 

Bei allem Eigenlob über den goldenen Boden des Handwerks, über den Meisterbrief als einzig tauglichen Qualitätsgaranten oder die tipp-topp digitalisierungskompatiblen Ausbildungen in Industrie und Handel: Manche Branchen schleppen durchaus selbst geschnürte Problempäckchen mit sich herum.

Natürlich gilt: Wo wenig verdient wird, wird auch in der Ausbildung wenig verdient. Daran wird auch eine gesetzliche Mindestvergütung wenig ändern, wie sie die Gewerkschaften fordern und wie es im Koalitionsvertrag steht. Denn wenn sich an den Arbeitsbedingungen und späteren Gehaltsperspektiven nichts ändert, setzte sie in diesen Branchen einen bösen Fehlanreiz; handfester formuliert: Es müssen nicht noch mehr Mädchen in die Friseursalons gelockt werden. Aber: Wo der Nachwuchsmangel eklatant ist, müssen sich die Firmen etwas einfallen lassen. Mehr Geld, attraktivere Arbeitszeitmodelle, Weiterbildung, Aufstiegschancen und ein menschenfreundlicher Ton wären schon mal ein Anfang.

 

Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 26.07.2018

 

Zurück